Sicherheit und Stabilität in der Türkei

Sicherheitspolitische Entwicklungen in der Türkei haben weitreichende Implikationen. Innenpolitische Instabilität, mit dem Syrienkrieg zusammenhängender dschihadistischer Terrorismus sowie der neu entfachte Kurdenkonflikt haben die Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren merklich verschlechtert. Was hat zu dieser Entwicklung geführt? Welche Perspektiven zeichnen sich ab?

von Christoph Elhardt
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Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016: Spuren der Gewalt am Polizeihauptquartier in Ankara. Osman Orsal / Reuters

Von Fabien Merz

Die Türkei befindet sich geografisch, politisch und kulturell an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Das Land gilt als aufstrebende Wirtschaftsmacht und ist unter anderem Mitglied der G20, der OECD, der Nato sowie ein EU-Beitrittskandidat. Allein schon wegen ihrer geografischen Lage spielt die Türkei nicht nur eine wichtige Rolle in der Region, sondern ist ihre Stabilität auch für den Westen von strategischer Bedeutung. So nimmt die Türkei Einfluss auf den Bürgerkrieg im benachbarten Syrien und spielt eine zentrale Rolle in der Flüchtlingsfrage, bei der globalen Terrorismusbekämpfung und bezüglich der Sicherung der Südostflanke der Nato.

Vor knapp zehn Jahren schien es der gesellschaftspolitisch konservativen und im politischen Islam verwurzelten, in Wirtschaftsfragen aber liberalen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) unter Premier Recep Tayyip Erdogan gelungen zu sein, eine explizit sunnitisch muslimische Identität mit parlamentarischen Institutionen, demokratischen Prinzipien und einer prowestlichen Orientierung unter einen Hut zu bringen. Die Grenzen dieser Entwicklung zeichneten sich aber spätestens im Sommer 2013 ab, als die Gezi- Park-Proteste, die sich gegen Erdogans zunehmend autoritäre Tendenzen und seine als schleichende Islamisierung wahrgenommenen Politik richteten, gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Seither haben sich die autoritären Tendenzen Erdogans weiter verstärkt. Im Juli 2016 kam es inmitten einer angespannten politischen Lage und einer zunehmend polarisierten türkischen Gesellschaft zu einem Militärputsch, der jedoch scheiterte. Die türkische Regierung reagierte mit gross angelegten «Säuberungswellen», die unter anderem auch die Sicherheitskräfte stark betroffen haben. Dies erfolgte zu einem Zeitpunkt, in dem sich im Landesinneren dschihadistischer Terrorismus im Sog des Syrienkrieges ausbreitete. Zudem hat sich der Kurdenkonflikt seit Mitte 2015 wieder massiv zugespitzt. Diese Ereignisse führten dazu, dass sich die Stabilität und die Sicherheitslage in der Türkei in den letzten Jahren merklich verschlechtert haben. In dieser Analyse werden die treibenden Faktoren dieser Entwicklung näher ergründet. Der Fokus wird dabei auf die Sicherheitslage innerhalb der Türkei gelegt.

Kehrtwende zum Autoritarismus

Als 2002 die von Erdogan mitgegründete AKP demokratisch an die Macht kam, verhalf dies der Türkei zunächst dank verschiedener Reformen zu einer hohen wirtschaftlichen Wachstumsrate und zu Fortschritten im Bereich der Verankerung von demokratischen Prinzipien. Die AKP stand für eine pro-westlichen Haltung. In der Folge wurden 2005 offizielle Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU aufgenommen.

Erste sichtbare Risse in diesem neuen Bild der Türkei entstanden 2008, als Anzeichen autokratischer Tendenzen von Erdogan in Form von Verhaftungswellen und Prozessen gegen politische Gegner sichtbar wurden. Eine markante Zäsur zeichnete sich im Sommer 2013 ab. Die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul, die sich zunächst gegen das Überbauen von Grünflächen gerichtet hatten, sich aber massiv ausdehnten und sich zunehmend gegen Erdogan selbst und dessen autoritären Tendenzen sowie gegen eine schleichende Politik der Islamisierung wandten, wurden gewaltsam niedergeschlagen. Die Türkei wurde für das Vorgehen gegen die Protestierenden öffentlich kritisiert, auch von den USA und der EU, welche in der Folge die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorübergehend aussetzte.

Die Tendenzen von Erdogans AKP-Regierung, demokratische Standards zu unterminieren und den in der Verfassung verankerten Säkularismus auszuhöhlen, haben seither einen systematischen Charakter angenommen. So wurde der Druck auf die Zivilgesellschaft und Medienschaffende weiter erhöht, der Zugriff auf verschiedene soziale Medien periodisch eingeschränkt und Gesetze verabschiedet, welche die verfassungsmässigen Kontrollmechanismen über die Exekutive sowie den Säkularismus weiter erodiert haben. Im Juni 2016 wies die Parlamentarische Versammlung des Europarates in einer Resolution darauf hin, dass die mit der Einschränkung der Presseund Meinungsfreiheit sowie der Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Nichteinhaltung von Menschenrechten zusammenhängenden jüngsten Entwicklungen in der Türkei ernsthafte Fragen bezüglich der Wahrung ihrer demokratischen Institutionen aufwerfen würden.

Diese Entwicklungen führten zu einer starken Polarisierung der türkischen Gesellschaft. Erdogan geniesst die Unterstützung der ländlichen, ärmeren und religiöseren Bevölkerungsschichten, während die küstennahen und tendenziell säkularen Grossstädte sowie die Mehrheit der ethnischen Kurden seinen Kurs stark ablehnen. Der Rückhalt in den ländlicheren Regionen hat es der AKP und Erdogan erlaubt, wichtige Wahlen zu ihren Gunsten zu entscheiden, darunter die Parlamentswahlen 2011 und (nach vorgezogenen Neuwahlen) auch 2015 sowie das stark umstrittene Verfassungsreferendum 2017.

Wiederholt kam es auch zu internen Machtkämpfen zwischen verschiedenen Interessensgruppen innerhalb des türkischen Staates ‒ unter anderem auch zwischen der AKP selbst und der einst mit ihr verbündeten, inzwischen aber verfeindeten und vor allem in der Judikative und im Bildungssystem verankerten islamischen Gülen-Bewegung. Die AKP reagierte mit Entlassungen und Verhaftungen von politischen Gegnern inner- und ausserhalb der staatlichen Strukturen.

Ein Putschversuch mit Folgen

In diesem zunehmend polarisierten und von internen Machtkämpfen geprägten innenpolitischen Klima kam es in der Nacht auf den 16. Juli 2016 zu einem Militärputsch. Die Regierung machte die Gülen- Bewegung für den gescheiterten Umsturzversuch verantwortlich. In der Folge ging Erdogan unter anderem mit massiven Verhaftungswellen in der Verwaltung, im Bildungssystem, in der Justiz sowie in der Armee und bei den Sicherheitskräften gegen vermutete Gülen-Anhänger vor. Innerhalb weniger Tage wurden zehntausende Staatsbedienstete suspendiert oder festgenommen, vorwiegend Soldaten, Polizisten, Richter und Staatsanwälte. Unter den Festgenommenen und unehrenhaft Entlassenen waren auch über 160 Generäle und Admiräle (knapp die Hälfte der Bestände in diesen Rängen). Im Rahmen des ausgerufenen Notstandes wurden bis im April 2017 rund 120’000 Personen suspendiert und rund 40’000 inhaftiert. Beobachter weisen darauf hin, dass die Regierung den Putschversuch auch als Vorwand genutzt hat, um ein noch schärferes Vorgehen gegen am Putsch unbeteiligte politische Gegner und Regierungskritiker zu rechtfertigen.

Neben dem per se destabilisierenden Effekt des Putsches selbst und dem Einfluss, den er auf eine weitere Verhärtung des repressiven Kurses der Regierung gehabt hat, sind insbesondere die «Säuberungswellen» in den Sicherheitskräften von Bedeutung. Diese haben sich negativ auf die Fähigkeit des türkischen Staates ausgewirkt, mit den anderen sicherheitspolitischen Herausforderungen des Landes fertigzuwerden. Dazu gehören der aus dem Syrienkrieg importierte Dschihadterror sowie der wieder offen ausgebrochene Kurdenkonflikt.

Die Türkei und der IS

Eine der akuten sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit der sich die Türkei gegenwärtig konfrontiert sieht, ist der Umgang mit im Syrienkrieg kämpfenden dschihadistischen Milizen. Vor allem bis Mitte 2015 wurde der Türkei von verschiedener Seite vorgeworfen, in Syrien operierende dschihadistische Milizen, darunter auch den IS, passiv oder aber gar aktiv zu unterstützen. Die erhobenen Vorwürfe reichen vom impliziten Passierenlassen von personellen und materiellen Nachschubflüssen über die türkische Grenze, dem Kauf von vom IS gewonnenem Rohöl bis hin zu einer aktiveren Unterstützung in Form von Waffen- und Materiallieferungen.

Es ist derzeit schwierig, unabhängig zu überprüfen, ob beziehungsweise zu welchem Grad solche Anschuldigungen berechtigt sind. Eine türkische Unterstützung von dschihadistischen Milizen liesse sich aber bis zu einem gewissen Grad durch die strategischen Imperative Ankaras in Syrien erklären. Zumindest in gewissen Bereichen – und vor allem in der Anfangsphase des Syrienkrieges – gab es eine Konvergenz der türkischen Interessen in Syrien mit denjenigen von dschihadistischen Milizen, darunter ab 2013 auch dem IS. So kämpfte der IS im Norden Syriens und damit in der Nähe der türkischen Grenze erbittert gegen die syrischen Kurden. Diese hatten im Chaos des Syrienkrieges die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete relativ rasch unter ihre Kontrolle gebracht und entlang der türkischen Grenze das de-facto autonome Gebiet Rojava ausgerufen (siehe Karte). Aus Sicht Ankaras – das die stärksten Milizen der syrischen Kurden (YPG und YPJ) als verlängerten Arm der PKK und somit als Terroristen einstuft – galt es, die syrischen Kurden aus Abwägungen, die mit der Kurdenfrage in der Türkei zusammenhängen, möglichst zu schwächen. Zudem gelang es Dschihadisten, darunter auch dem IS, sich im Syrienkrieg ab 2013 als Gegengewicht zum Assad-Regime aufzubauen, gegen das die Türkei zu Beginn der Aufstände 2011 klar Position bezogen hatte.

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Kehrtwende gegenüber dem IS

Von türkischer Seite hiess es offiziell, man gehe zur Vermeidung von Vergeltungsakten nicht energischer gegen den IS vor. Unabhängig davon, inwieweit Vorwürfe einer türkischen Kooperation mit Dschihadisten oder eines «Laisser-faire» zutreffen, kann festgehalten werden, dass die Türkei ab Mitte 2015 ihre Position gegenüber dem IS merklich verhärtet hat. Der Druck, den die USA und ihre Verbündeten auf die Türkei ausgeübt haben, um sie zu einem energischeren Vorgehen gegen den IS zu animieren, dürfte einer der Gründe für diese Kehrtwende gewesen sein.

Ende Juli 2015 führte die Türkei gross angelegte Razzien durch, die sich unter anderem auch gegen in ihrem Territorium operierende dschihadistische Netzwerke richteten. Zudem wurde ab Ende Juli 2015 den USA erlaubt, im Kampf gegen den IS die Luftwaffenbasis in Incirlik zu nutzen – was die Türkei den USA trotz ihrer Mitgliedschaft in der internationalen Koalition gegen den IS seit September 2014 zunächst verwehrt hatte. Im August 2016 intervenierte die Türkei ferner militärisch in Nordsyrien, offiziell, um den IS aus demdamals noch von ihm kontrollierten Gebiet an der Grenze zur Türkei zurückzudrängen (siehe Karte). Die Intervention ermöglichte es der Türkei gleichzeitig aber auch, zu verhindern, dass die syrischen Kurden die von ihnen kontrollierten Gebiete in Nordsyrien geografisch verbinden konnten. Dies ermöglichte es der Türkei, die Position der syrischen Kurden zu schwächen.

Vergeltungsakte des IS

Dieses härtere Durchgreifen der Türkei ab Sommer 2015 blieb nicht ohne Reaktion des IS, der ab diesem Zeitpunkt damit begann, vermehrt Anschläge in der Türkei zu verüben. Diese Angriffswelle unterschied sich von früheren in der Türkei verübten Angriffen des IS darin, dass sich die Anschläge diesmal nicht mehr wie zuvor primär auf Kurden oder zumindest kurdennahe Ziele konzentrierten, sondern sich nun direkt und systematisch gegen den türkischen Staat und die türkische Gesellschaft selbst richteten. So kam es im Oktober 2015 zu einem Bombenanschlag in Ankara, im Januar 2016 und im März 2016 zu Selbstmordanschlägen in Istanbul, im Juni 2016 zum Anschlag auf den Atatürk-Flughafen in Istanbul und im Januar 2017 zum Anschlag auf einen Nachtklub in Istanbul. Die Terrorkampagne des IS erfolgte teilweise zeitgleich mit den massiven «Säuberungswellen » und damit zu einem Zeitpunkt grosser Umbrüche für die Sicherheitskräfte. Diese Angriffswelle, die insgesamt mehrere hunderte Tote und Verletzte forderte, hat somit zu einer signifikanten Verschlechterung der Sicherheitslage in der Türkei beigetragen.

Ungelöste Kurdenfrage

Eine weitere Entwicklung, die sich zusätzlich negativ auf die Sicherheitslage und die Stabilität des Landes ausgewirkt hat, hängt mit dem lange schwelenden Kurdenkonflikt in der Türkei zusammen. Ab 2013 hatte es zunächst Fortschritte bei Friedensverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK gegeben. Trotz dieser Erfolge handelte es sich dabei um einen äusserst fragilen Frieden. Erneute Spannungen entstanden im Rahmen der Belagerung der kurdischen Grenzstadt Kobane durch den IS (im Winter 2014/15). Die Türkei blockierte während der Anfangsphase der Belagerung jeglichen Nachschub in die von syrischer Seite eingeschlossene und von der YPG/YPJ gehaltene Stadt. Auch von türkischen Kurden erhobene Vorwürfe wurden immer lauter, wonach die Türkei den IS gewähren lasse, ihn als Werkzeug gegen die Kurden instrumentalisieren und sogar unterstützen würde. Dies führte Ende 2014 zu Spannungen und zu kurdischen Protesten in der Türkei.

Wiederaufflammen des Konflikts

Als es im Juli 2015 zu verheerenden Anschlägen des IS auf einer Kundgebung der prokurdischen Oppositionspartei HDP kam und ein paar Wochen später zu einem vergleichbaren Angriff auf eine Veranstaltung einer prokurdischen Jugendpartei, vergalten PKK-nahe Kreise dies mit Anschlägen gegen als mitschuldig wahrgenommene türkische Sicherheitskräfte. Dies trat eine Kettenreaktion von türkischen Luftschlägen gegen PKK-Ziele im Nordirak, Verhaftungswellen in der Türkei und erneuten Anschlägen der PKK und anderer kurdischen Gruppierungen los, die letztlich zum Zusammenbruch der Friedensverhandlungen führte. Diese Gewaltspirale mündete in Anschlagserien der PKK und anderer kurdischen Gruppierungen sowie einer gross angelegten Operation der türkischen Sicherheitskräfte im Südosten der Türkei, in der die Mehrheit der in der Türkei lebenden kurdischer Minderheit beheimatet ist. Dabei kam es gemäss der UNO sowie verschiedener Menschenrechtsorganisationen auch zu Übergriffen der türkischen Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung. Laut der «International Crisis Group» sind im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Gruppierungen zwischen Juli 2015 und März 2017 rund 3300 Personen ums Leben gekommen. Der neu entfachte Kurdenkonflikt hat im Zusammenspiel mit der sich zeitlich überlappenden Terrorkampagne des IS zu einer weiteren Destabilisierung und zur Verschlechterung der Sicherheitslage in der Türkei beigetragen.

Inwiefern wahlstrategische Überlegungen der AKP im Zusammenhang mit den im Juli 2015 stattgefundenen türkischen Parlamentswahlen, bei denen die AKP erstmals seit 2002 die Mehrheit im Parlament durch das Erstarken der prokurdischen HDP verlor, bei der Eskalation des Konfliktes mitgespielt haben dürften, ist schwer abzuschätzen. Erdogan und der AKP wird vorgeworfen, den Kurdenkonflikt angefacht und dazu genutzt zu haben, nationalistische Ressentiments gegen die Kurden und die HDP zu schüren, um bei den vorgezogenen Neuwahlen vom November 2015 die Mehrheit im Parlament zurückzuerobern.

Folgen für die Schweiz

Die Lage in der Türkei hat auch Implikationen für die Schweiz. Die Schweiz stand 2015 an 12. Stelle der wichtigsten internationalen Investoren in der Türkei. Zudem ist die Sicherheit der Schweizer in der Türkei (2016 rund 215’000 Schweizer Touristen und 4422 Auslandschweizer) auch von Bedeutung. Politische Spannungen in der Türkei können ferner auch in die Schweiz überschwappen: Ereignisse in der Türkei können zu Spannungen und Gewalt zwischen in der Schweiz lebenden Diasporagemeinschaften führen.

Wie weiter?

Das durch die starke Polarisierung der Gesellschaft und politische Machtkämpfe geprägte innenpolitische Klima, der neu entfachte Kurdenkonflikt sowie die Terrorkampagne des IS stellen einen denkbar ungünstigen Mix verschiedener Faktoren dar, der sich in den letzten Jahren stark negativ auf die Stabilität und die Sicherheitslage in der Türkei ausgewirkt hat.

Der IS mag zwar militärisch nahezu besiegt sein. Seine Fähigkeit, Terroranschläge in der Türkei auszuüben, ist aber keineswegs gebrochen. Im Oktober 2017 hat die Türkei zudem militärisch in der syrischen Idlib-Provinz interveniert (siehe Karte). Offiziell mit dem erklärten Ziel, einen Schutzkorridor für Zivilisten zu errichten. Experten weisen aber darauf hin, dass es auch hier primär wieder darum gehen dürfte, einer möglichen kurdischen Expansion den Riegel zu schieben und das kurdisch kontrollierte Afrin einzuschliessen. Zudem scheint es, dass türkische Kräfte in der Provinz stark verankerte, der Kaida nahe stehenden Dschihadisten zumindest vorübergehend zu tolerieren scheinen. Unabhängig von ihren Beweggründen läuft die Türkei Gefahr – wie es ihr bereits in ihrem Umgang mit dem IS vorgeworfen wurde – aufgrund ihrer Priorisierung, die syrischen Kurden zu schwächen, andere, aber potenziell keineswegs weniger akute sicherheitspolitische Probleme heraufzubeschwören. Denn auf lange Sicht ist mit einer dschihadistischen Präsenz in Idlib niemandem geholfen, auch nicht der Türkei. Die Terrorangriffe des IS sollten eigentlich unmissverständlich aufgezeigt haben, dass sich Dschihadisten bei wechselnden Umständen auch gegen die Türkei wenden können.

Trotz der türkischen Bestrebungen, die syrischen Kurden möglichst schwach zu halten, kontrollieren diese gegenwärtig einen Grossteil des Grenzgebiets auf der syrischen Seite. Auch haben sie sich im Hinblick auf eine mögliche künftige Lösung des Syrienkonflikts als wichtigen Akteur etabliert und geniessen unter anderem Unterstützung und politische Rückendeckung der USA sowie Russlands. Die im Januar 2018 angelaufene Militärintervention der Türkei im nordsyrischen Afrin, welche darauf abzielt, die YPG/YPJ aus der Region zu vertreiben (siehe Karte), stellt ein weiteres beträchtliches Risiko für die Stabilität und die Sicherheit innerhalb der Türkei dar. Diese Operation entspricht zwar der sicherheitspolitischen Priorität Ankaras, in Syrien die Herausbildung eines autonomen Kurdengebietes an seiner Grenze zu behindern. Gleichzeitig birgt sie aber auch das Risiko, dass sich die Kurden, wie bereits während der Belagerung der Grenzstadt Kobane 2014/15, über die Grenzen hinweg solidarisieren, was den Kurdenkonflikt in der Türkei weiter anfachen dürfte.

Dementsprechend wird sich die Türkei in naher Zukunft weiterhin mit akuten sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert sehen. Im Juli 2017 wurde eine Verfassungsreform mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen, die das Präsidialamt von Erdogan zugunsten der Justiz und des Parlaments massiv stärken wird. Ob sich diese Reform, wie von Befürwortern erwartet, stabilisierend auf die Lage in der Türkei auswirken oder aber, wie von Kritikern befürchtet, durch die Erosion der Gewaltentrennung den autoritären Kurs der Regierung bestärken wird, bleibt abzuwarten. Die Mehrheit unabhängiger Beobachter im Westen hält letzteres Szenario und damit potenziell auch die Zunahme der Instabilität für wahrscheinlicher.

Die Türkei befindet sich gegenwärtig an einem Scheideweg. Wird es dem Land gelingen, die innenpolitischen Konflikte zu überwinden, die daraus entstandenen schwelenden Wunden zu heilen und sich dem destabilisierenden Sog des Syrienkrieges zu entziehen? Von der Beantwortung dieser Frage dürften die Sicherheit, die Stabilität und letztlich auch die weitere Entwicklung des Landes abhängig sein. Aufgrund der geostrategischen Bedeutung der Türkei wird die Situation im Land nicht nur die Stabilität und Sicherheit der gesamten Region, sondern potenziell auch Europas und des Westens beeinflussen.

Fabien Merz ist Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Er ist Autor von u.a. «Der schwierige Umgang mit Dschihad-Rückkehrern» (2017).

Herausgeber: Christian Nünlist und Matthias Bieri

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